Du (Norma)
Norma, die als kleines Kind noch gerne mit den Jungs gespielt hat (und diese mit ihr), muss irgendwann mit Ernüchterung feststellen, dass Gleichberechtigung auf dem Spielplatz aufhört, als die Jungs feststellen, dass sie „anders“ ist: Als Mädchen darf sie nicht mehr mitspielen. Im Teenageralter kämpft sie mit ihrem sich verändernden Körpergefühl und den Erwartungen an das Frau-Sein und -Werden. Ihre Kindheit nimmt mit einem Schlag ein Ende, als sie auf der Geburtstagsparty ihres Bruders unter Drogeneinfluss Opfer einer Massenvergewaltigung wird. Obendrein wird sie dafür in der Schule gemobbt. Auch das Wegziehen und Studieren bringen keinen Neustart, sondern nur belanglose Liebschaften, übermäßigen Drogenkonsum und einen Verkehrsunfall mit sich. Ungewollt schwanger wird ihr sogleich die Vormundschaft vom Jugendamt entzogen und die Verwirrungen in ihrem Kopf werden stetig mehr. Nach einer versuchten und gescheiterten Entführung steht sie vor einer großen Entscheidung: Wie soll es weitergehen? Geht ihr Leben nun ab- oder aufwärts oder endet es? Reichlich dramatisch klingt die Geschichte von Norma, der das Schicksal eine Prüfung nach der anderen beschert. Oder ist es der Autor? Denn das Stück ist auch eine hintersinnige dramatische Spielerei zu einem ernsten Thema. Neben den dialogischen Passagen stehen nämlich lange Prosatexte, vorgeblich sind es Regieanweisungen, die „je nach Finanzlage des jeweiligen Theaters umgesetzt oder auch nur erzählt werden können“. Mit dem typischen Witz von Philipp Löhle werden darin Situationen geschildert, in denen sich die leidgeprüfte Protagonistin wehren und bewähren muss – bis sie schließlich die Prosastimme adressiert und in einen Dialog mit ihrem unsichtbaren Schöpfer tritt. Die drastische Zuspitzung des Schicksals der Theaterfigur Norma ist, wie ein Blick auf die aktuellen Statistiken der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zeigt, dennoch bittere Realität: Jede dritte Frau in der EU ist körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Philipp Löhle fühlt dem Lauf der Zeit also wieder einmal auf den Zahn und fragt: Kann es einen bewussten Ausstieg aus einem vorgegeben Leben geben, kann eine Revolte gegen die uns umgebenden Gewaltstrukturen erfolgreich sein, und sei es nur, indem eine Figur es schafft, hinter den Text zu schauen, der ihr vorgegeben wird?
Bühne: Frank Holldack
Kostüme: Karoline Bierner
Dramaturgie: Jennifer Weiss
Es spielen: Sarah Sophia Meyer, Clemens Maria Riegler, Benedikt Greiner, Pascal Goffin
Premiere: 04. März 2017