Author Archives : DanielGoffin

King Lear

Kultur - Theater

Es beginnt wie in einem Märchen: Ein alter König dankt ab und teilt sein Reich unter seinen Töchtern auf. Doch da seine Lieblingstochter nicht in der erwarteten Weise ihre Liebe zu ihm äussert, verstösst er sie und schlägt ihr Drittel den beiden älteren Schwestern zu. Er will lediglich die Königswürde behalten und abwechselnd bei einer von beiden wohnen. Doch schon bald verstört der Vater die Gastgeberinnen mit seiner Lebenslust, so dass sie ihn schliesslich vor die Tür setzen.

Sind die reich beschenkten Töchter böse Biester, die dem Alten einen guten Lebensabend nicht gönnen oder lebt der Senior auf dem Rücken der Kinder anarchistisch-rücksichtslos seine neu gewonnene Freiheit aus? Oder ist sein Wahnsinn gar eine Form von Demenz ? Wie oft bei Shakespeare sind die Motive rätselhaft und die Charaktere so vielschichtig, dass sich diese Fragen nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantworten lassen, vielmehr Spielraum für Interpretation geben. Fakt ist, dass Lear, von seinen älteren Töchtern verstossen, durch die Welt irrt. Er ist scheinbar wahnsinnig geworden, wird begleitet nur von einem Narren und dem treuen Grafen von Kent. In einer Sturmnacht wird das seltsame Trio um einen nackten, jungen Mann ergänzt, der sich seinerseits aus Verzweiflung über seinen Vater in den Wahnsinn geflüchtet hat.

Undank der Kinder und Willkür der Eltern, echte geistige Umnachtung und Wahnsinn als Schutzfunktion des Verstandes, dazu die professionelle Verrücktheit des Narren und die wahnsinnigen Naturgewalten in der Sturmnacht auf der Heide – die Begegnung der drei Verrückten und ihr philosophisches Gespräch ist Höhe- und Wendepunkt des Dramas, das zeigt, wie dünn der Firnis der Vernunft, wie ungeschützt der Mensch sämtlichen Kräften der Natur ausgesetzt und wie sehr er nichts weiter als ein nacktes, armes Tier ist, sobald er aller Ämter, Würden und äusserlicher Statuszeichen entkleidet ist.